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║ 6. Jackie ║
║ Donnerstag, 6. Januar 2005, 00:00 eloi ║
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Wie jeden Donnerstag hole ich Jackie aus dem Heim ab, um mit ihr Gassi zu gehen. Wie jedes mal wird sie von einigen Hunden angebellt. Wie jedes mal bellt sie zurück. Mittlerweile kennen uns einige von den Leuten, die uns begegnen und schauen nicht mehr ganz so komisch. Auf der großen Lichtung im Park stecke ich ihr die Leine in den Beutel und lasse sie laufen. Ich glaube, sie ist das einzige Känguru dieser Erde, daß läuft statt zu springen. Aber vielleicht brachte das das Stadtleben mit sich.
Aber heute ist Revolution.
Anstatt direkt zurück zum Heim gehe ich mit Jackie zur Bushaltestelle. Sie schaut mich verwirrt an. Ich zwinker ihr zu und sage ihr, was ich vorhabe.
Nicht einmal eine halbe Stunde später sind wir bei mir zuhause. Ich gehe mit ihr in die Küche, schließe die Küchentür, lasse die Jalousie herab und nehme ihr das Halsband ab. Ich öffne mir ein Bier. "Setz' Dich." Zögernd lässt sie sich auf dem Boden in der hintersten Ecke nieder. "Möchtest Du was trinken?" Keine Reaktion. Wie immer, wenn ich mit ihr rede. "Jackie, wir kennen uns jetzt über ein Jahr. Wir sind hier unter uns. Niemand kann Dich sehen oder hören. Und ich würde mich sehr freuen, mal Deine Stimme zu hören." Keine Reaktion. Ich trinke einen Schluck Bier, halte ihr die Flasche hin. Langsam nimmt sie einen winzigen Schluck. "Ach komm schon, ich sag's auch niemandem. Warum tust Du das?" Ich warte. Sie sitzt regungslos in der Ecke. Als ich die leere Flasche in den Kühlschrank zurücklege eine leise, warme Stimme "Es ist einfacher." Überraschung wäre geheuchelt. Ich werde fast ohnmächtig vorm Kühlschrank. Taste mich zu meinem Stuhl zurück. "Es ist einfacher?" Diesmal antwortet sie sofort, noch immer sehr leise und warm. "Ja. Ich brauche mich um nichts zu kümmern. Hab eine kostenlose Wohnung. Naja, Zimmer. Mir reicht das. Bekomme meine Malzeiten und werde nicht genötigt mit irgendwelchen Leuten zu reden. Und ich werde in Ruhe gelassen. Einmal pro Woche kommst Du mich besuchen und ich kann mal raus. Das ist für mich das beste Leben, das ich mir vorstellen kann."
Bumm. Fertig. Das ist ihre Theorie. Warum nicht. Ich hatte schwerwiegende psychische Probleme erwartet, aber sie will nur ihre Ruhe.
Ich bin immer noch verblüfft, als sie den Reißverschluss öffnet und den Kopf ihres Kostüms abnimmt und den oberen Teil des Känguru-Overalls abstreift. Darunter befindet sich ein ziemlich hübsches Mädchen mit langen, braunen Haaren, ebenso gefärbten Augen, sehr heller Haut und Jeans-Latzhose. Als sie meinen Blick bemerkt, lacht sie. "Weißt Du, ich bin gar kein richtiges Känguru."
Bei einem weiteren Bier für jeden von uns erfahre ich, daß sie das Kostüm tatsächlich nur zum duschen ganz auszieht und ich seit drei Jahren der erste bin, der ihr menschliches Gesicht sieht. Ich schaue auf die Uhr. Schon fast eine Stunde zu spät, also rufe ich im Heim an um Bescheid zu sagen.
Nach einem Jahr schweigender Freundschaft hatten wir einiges Nachzuholen.
Jackie wacht auf. Benommen schüttelt sie den Kopf - was für ein absurder Traum. Als sie im Bad in den Spiegel schaut, bemerkt sie, daß der Reißverschluss ihres Hasenkostüms ein Stück weit offen ist. Ein Blick auf die Uhr. Er müsste gleich da sein. Immerhin ist heute Donnerstag.