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║ 17. Shiva                                                           ║
║ Montag, 17. Januar 2005, 00:00                                 eloi ║
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Ganz langsam steigt der rote Ballon in die Höhe. Sie selbst an Bord der Gondel. Sie hatte sich den Korb immer viel kleiner vorgestellt. Bei fast schon 20 Metern Höhe sieht sie den Ballonführer wild gestikulieren - am Boden.
Verwirrt dreht sie sich um, doch was der Leser schon vermutet, stellt sich als schockierende Überraschung für sie heraus. Wie in Trance geht sie um den Brenner herum. Nachdem sie sich die Regler und Instrumente, deren Beschriftung sich für sie wie eine japanische Tageszeitung lasen, genau angesehen hat, setzt sie sich auf den Boden und schließt, den Kopf auf die Knie gelegt, die Augen. Durch die geschlossenen Lider sieht sie den Ballon immer höher steigen, bis durch die Wolken, immer höher, bis ihr die Erde selbst nur noch so groß wie ein Tennisball scheint.
Schließlich fast sie Mut und schaut verzweifelt nach unten. Sie kann zwar Häuser und Bäume recht gut erkennen und die wandelnden Punkte dort sind vermutlich die Fußgänger, aber sicher fühlt sie sich deswegen nicht unbedingt. Aber immerhin steigt sie nicht weiter. Ein wenig erleichtert studiert sie den Brenner eingehend. Versuchsweise drehte sie vorsichtig an dem kleinen, grauen Knopf direkt unterhalb der einen Brennerflamme. Wie erwartet wird die Flamme kleiner. Sie dreht beide Flammen herunter, traut sich aber nicht, den Brenner ganz auszumachen, für den Fall, daß sie ihn später noch einmal braucht. Der Wind treibt sie in Richtung offenes Meer und ihre Höhe nimmt nur langsam ab, wie das piepsen des Variometers ihr verrät. Resignierend starrt sie gebannt in die Richtung in die sie fährt. Erst wenige Meter über der Meeresoberfläche, dreht sie erschrocken beide Brenner wieder hoch.
Die Küste ist schon kaum mehr zu erkennen. Sie kennt sich mit Thermik nicht so gut aus, aber wenn in wenig Höhe der Wind nach Nord-Osten, aufs Wasser zu weht, vielleicht ist weiter oben ja eine Rückströmung in Richtung Festland, überlegt sie. Langsam wieder aufsteigend beginnt der Ballon leicht zu schaukeln. Tausend Gedanken rasen durch ihren Kopf. Was, wenn ich jetzt ins Meer falle? Oder was, wenn mich der Wind immer weiter hinaustreibt? Irgendwann ist das Gas leer und ich werden unweigerlich ins Meer sinken. Ist der Korb Wasserdicht? Wird sich der dann schlaffe Ballonsack sich mit Tonnen von Wasser füllen und mich mitsamt Korb hinabreißen? * Oder werde ich auf hoher See an einem Eisberg oder an einem Felsen vor irgendeiner Küste zerschmettert? Oder schwimme ich solange in der Gondel umher, daß ich schließlich beim Anblick des Eifelturms verhungere? **
Plötzlich klingelt ihr Mobiltelefon. Sie sucht hektisch in ihrer Tasche. Darauf hätte ich auch kommen können, denk sie.
Dann fällt ihr ein, daß sie ihr Telefon gar nicht mitgenommen hat. Es ist nicht in der Tasche. Es klingelt immer noch. Sie tastet sich ab. Nichts.
Sie hört eine Männerstimme ihren Namen sagen. Ist das Gott?
Verwirrt blinzelt sie in die Baumkronen der paar Obstbäume unter denen sie liegt. Offensichtlich das Paradies. Nur, wie war sie gestorben? Und was soll ausgerechnet sie im Paradies. Selbst sehr optimistisch betrachtet war sie absolut nicht der Paradiestyp. Da ist wieder diese Männerstimme, die ihren Namen sagt, fragend inzwischen. Sie richtet sich auf und sieht ihn, ihr einen Apfel reichend. Erschrocken blickt sie an sich herab. Zum Glück ist sie bekleidet. Bunte Ringelsocken, selbst kurzgeschnittene Jeans, ein löchriges rotes T-Shirt über einem ebenso löcherigem gelbem T-Shirt. Vereinzelt kann man, wo sich die Löcher überschneiden, das lochfreie Tank-Top sehen. Ihre Boots findet sie ein paar Meter weiter. Hilflos abgewetzte und ausgelatschte 14-Loch Ranger mit je einem roten und einem rot-grün-gelb geflochtenem Schnürsenkel sowie eine Glöckchenkette am Stiefel mit dem roten Band.
Weil sie Hunger hat nimmt sie den Apfel und plötzlich erkennt sie den Typen, der ihr den Apfel gereicht hat und sie erinnert sich an alles. Sie beißt in den Apfel und der Typ, den sie im Zug auf der Fahrt hierher kennengelernt hat, fragt, ob ihr der Film gefallen habe und ob sie noch einen sehen möchte.
Bevor sie genau weiß was passiert, sprudelt es lachend aus ihr hervor und sie erzählt ihren ... Traum oder was immer es auch war. Es war so real. Als sie fertig ist, deutet er, sprachlos vor lachen, auf eine Astgabel in einem der Obstbäume, in der sich ein mit Helium gefüllter Luftballon verfangen hatte.
Schließlich meint er, daß es Zeit ist, zu erfahren wie es weitergeht und beide legen sich zuerst die Eintrittskarte zum Kopfkino, ein unscheinbares Stückchen Löschpapier, auf die Zunge und dann sich selbst wieder ins Gras, während in der Ferne andere Leute Musik spüren und Farben schmecken.

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* Was physikalisch gesehen schon mal nicht hinhaut: Wenn der Korb wasserdicht ist, schwimmt er. Wenn der Ballon selbst so kalt ist, daß er ins Meer fällt und sich vielleicht sogar allmählich mit Wasser füllt wird er nicht untergehen, da sich immer einige Luftblasen im Inneren sammeln werden, die den Ballon über Wasser halten. Und sollte es wirklich passieren, daß die Öffnung immer nach oben zeigt, sämtliche Luft entweichen kann und der Ballon untergeht, wird er wie ein lebloser Sack unter der Gondel im Meer schweben, sie aber sicher nicht herabziehen. Natürlich ist hier noch keine von Wind, Wellen, Strömungen und Haien ausgehende Gefahr einkalkuliert... Andererseits hat man, als junge Frau in Panik, andere Sorgen als Physik.

** Was auch nicht ganz logisch ist, denn sie wird ja Richtung Nord-Ost getrieben, also genau vom Eifelturm weg. Aber als junge Frau in Panik hat man andere Sorgen als Geografie.